Wie die Wissenschaft die Volksmedizin entdeckt
Seit Jahrhunderten wird Kamille (Chamomilla recutita)
in der Volksmedizin verwendet, um Geschwüre zu heilen und Wunden zu
reinigen. Die Inhaltsstoffe der Heilpflanze und ihre entzündungshemmende
Wirkung konnten jedoch erst in den vergangenen Jahren wissenschaftlich
enträtselt werden. Die zehn wichtigsten Substanzen, die aus der Kamille
isoliert wurden, greifen ganz gezielt in den Entzündungsprozess ein.
Einige verhindern die Bildung von Prostaglandinen und Leukotrienen -
Botenstoffe , die etwa die Blutgerinnung hemmen. Das so genannte
Chamazulen wirkt besonders der Entstehung von so genannten
Sauerstoffradikalen entgegen, die Zellen schädigen.
Auszüge aus den reifen Früchten der Zwergsägepalme (Sabal serrulata) lindern die Beschwerden bei gutartig vergrösserter Prostata. Über 25
Prozent aller Männer, die älter als 40 Jahre sind, leiden daran, im
sechsten Lebensjahrzehnt steigt die Rate sogar auf über 75 Prozent.
Typische Anzeichen sind häufiges Wasserlassen, das lästige Gefühl, die
Harnblase nicht vollständig entleeren zu können, und Entzündungen. Eine
Studie mit 309 Patienten, die drei Jahre lang mit dem Pflanzenextrakt
Behandelt wurden, ergab eine deutliche Besserung dieser Symptome. Im
Vergleich mit einem konventionellen Medikament erwies sich die
Früchtekur sogar als wirksamer, und sie hatte erheblich weniger
Nebenwirkungen. Gesteuert wird das vermehrte Wachstum des Drüsengewebes
in der Prostata unter anderem durch die Ausschüttung von
Dihydrotestosteron. Der Sägepalmenextrakt beschleunigt den Abbau dieses
Hormons und hemmt dessen Bildung. Vorsicht jedoch bei der
Selbstmedikation ohne ärztliche Kontrollen: Die Diagnose eines möglichen
Prostatakarzinoms kann nicht nur verschleppt, sondern auch erschwert
werden, weil das Präparat die Bildung bestimmter Tumormarker
unterdrückt.
Der griechische Historiker Herodot überliefert, dass beim Bau der ägyptischen Pyramiden Knoblauch (Allium sativum) zum Verzehr an die Arbeiter ausgegeben wurde, um sie vor Sumpffieber zu schützen. Und im Mittelalter galten die Knollen als Mittel gegen die Pest. Erst im Zeitalter der Antibiotika verlor Knoblauch seine Bedeutung bei der Bekämpfung von Infektionen. Heute sind die stark riechenden Zwiebeln vor allem zur Vorbeugung von Arteriosklerose gebräuchlich. Denn zahlreiche Studien haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Knoblauch den Pegel schädlicher Blutfette senken kann. Zum Beispiel entwickeln sich bei Kaninchen, die mit cholesterinreicher Nahrung gefüttert werden, deutlich weniger Gefässschädigungen, wenn die Tiere gleichzeitig Knoblauchpulver bekommen. An isolierten Leberzellen konnte zudem nachgewiesen werden, dass Knoblauch die Bildung von körpereigenem Cholesterin hemmen kann.
Heilpflanzen wie das Johanniskraut (Hypericum perforatum)
wurden früher bei der Behandlung seelischer Störungen von
Schulmedizinern meist als »Edelplacebos« verkannt - als "echte"
Antidepressiva in ihrer Wirkung zu schwach. Doch immer mehr Patienten
kurierten ihre psychischen Tiefs auf eigene Faust mit Johanniskraut;
eine Arznei, die schon seit der Antike in der Volksmedizin eingesetzt
wird. Ärzte und Wissenschaftler sahen sich schliesslich gezwungen, das
beliebte Wundermittel in Kliniken und Labors zu prüfen - mit
überraschenden Resultaten. Bei milden Depressionen ist die Wirkung von
Johanniskraut mit Antidepressiva aus der Retorte vergleichbar. Aber es
verursacht im Unterschied zu synthetischen Präparaten kaum unangenehme
Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Magenbeschwerden und Müdigkeit. Im
Rattenexperiment konnte inzwischen belegt werden, dass Extrakte aus
Johanniskraut die Blut-Hirn-Schranke passieren und im Vorderhirn mit
Andockstellen für Botenstoffe wechselwirken, die für die emotionale
Wahrnehmung wichtig sind. Wie moderne Antidepressiva sorgt das Heilkraut
zudem dafür, dass das Gehirn länger mit dem Glückshormon Serotonin
überflutet wird.
Bei der indischen Ayurveda-Medizin werden entzündliche Erkrankungen, zum
Beispiel Rheuma, seit vielen Jahren mit dem Gummiharz des
Weihrauchbaumes (Salai Guggal) behandelt. Der therapeutische
Nutzen konnte inzwischen auch von deutschen Wissenschaftlern bestätigt
werden. Chronisch Rheuma-Kranken wurde im Rahmen einer klinischen Studie
ein Extrakt aus dem Harz von Boswellia serrata (Weihrauchbaum) verordnet. Bei rund 65 Prozent der Patienten milderte die
Pflanzenarznei die Schmerzen, Schwellungen bildeten sich zurück, und die
Steifigkeit der Gelenke nahm ab. Auch das Wirkprinzip des Salai Guggal
konnte jetzt weitgehend auf geklärt werden. Das Harz enthält so genannte
Boswellia-Säuren. Sie hemmen die Bildung von hormonähnlichen
Botenstoffen (Leukotriene), die bei chronischen Entzündungen vermehrt im
Körper ausgeschüttet werden. Tabletten, die Extrakte aus Salai Guggal
enthalten, sind in Deutschland bislang nicht zugelassen, können aber
über Apotheken in der Schweiz bestellt werden.
Extrakte aus Ginkgoblättern (Ginkgo biloba)
werden häufig verordnet, um bei älteren Menschen das Denkvermögen zu
verbessern. Die pflanzlichen Präparate fördern die Durchblutung des
Gehirns und sollen bei Vergesslichkeit, Konzentrationsschwäche und
Orientierungsproblemen, aber auch gegen Schwindel und Depressionen
helfen. Gesicherte Daten über die Erfolge der Therapie waren bislang
rar. Jetzt aber belegt eine amerikanische Studie an über 300
US-Patienten, die an Altersdemenz oder der Alzheimer-Krankheit litten,
dass Ginkgo bei jedem zweiten Erkrankten das Fortschreiten des
Gedächtnisverlustes verzögern konnte. Bei 30 Prozent aller Patienten
beobachteten die Wissenschaftler sogar eine Verbesserung des
Erinnerungsvermögens. Ob Ginkgo auch bei Gesunden das Denken beflügeln
kann, ist noch nicht erforscht.
Viele Engländer züchten Mutterkraut (Tanacetum parthenium)
auf der Fensterbank und essen die Blätter im Salat oder auf dem
Sandwich, um Migräne-Attacken vorzubeugen. Klinische Untersuchungen in
Grossbritannien bestätigen diese Wirkung: Bei 72 Prozent aller
Patienten, die über zwei bis vier Monate einen Extrakt aus Blüten und
Blättern der Heilpflanze eingenommen hatten, verringerte sich die Zahl
der Migräneanfälle deutlich. Traten Kopfschmerzen auf, so waren sie
schwächer und weniger häufig von Übelkeit, Erbrechen und Schwindel
begleitet als vor der Kräuterkur. Bestimmte Inhaltsstoffe der
Heilpflanze, vor allem das so genannte Parthenolid, verhindern die
Ausschüttung von Botenstoffen im Gehirn, etwa des Serotonins, dessen
unkontrolliertes Freisetzen für Migräneattacken mitverantwortlich ist.
In Deutschland ist das Mutterkraut noch wenig gebräuchlich. Derzeit wird
aber eine erste klinische Studie mit dem Ziel durchgeführt, die
therapeutische Wirksamkeit zu untermauern und die optimale Dosierung zu
ermitteln. In etwa drei Jahren soll Mutterkraut auch hier für die
Behandlung von Migräne zugelassen werden.
Auszüge aus dem Wurzelstock der Traubensilberkerze (Cimicifua racemosa),
im Volksmund Schlangenkraut oder Wanzenkraut genannt, lindern die
Beschwerden in den Wechseljahren. Bei täglicher Einnahme über mehrere
Wochen bessern sich bei 60 bis 75 Prozent der Frauen die Symptome wie
Hitzewallungen, Schweissausbrüche, Schlafstörungen und depressive
Verstimmungen. Früher wurde angenommen, dass die Heilpflanze eine
östrogenähnliche Wirkung hat. Neue Studien belegen, dass der
Hormonhaushalt nicht beeinflusst wird. Der Extrakt aus der
Traubensilberkerze ist deshalb eine Alternative für Frauen, die eine
Hormonbehandlung während des Klimakteriums ablehnen oder wegen
Östrogenabhängiger Tumoren der Brust oder Gebärmutterschleimhaut keine
Hormonpillen nehmen dürfen.
Der Weissdom (Crataegus oxyacantha),
auch als Christdorn oder Mehlbeerbaum bekannt, gilt in der Volksmedizin
seit fast 2000 Jahren als »herzstärkendes" Mittel. Erstmals erwähnt
wurde die Heilpflanze von Dioskurides, einem Militärarzt in der Zeit des
römischen Kaisers Nero. Heutzutage sind Extrakte aus Blättern, Blüten
oder Früchten des Weissdorns vor allem gebräuchlich, um der
nachlassenden Leistungsfähigkeit des Herzens im Alter entgegenzuwirken.
Beschwerden wie Beklemmungsgefühle, Atemnot und rasche Ermüdbarkeit
können durch Weissdorn gelindert werden. In den vergangenen Jahren wurde
die Wirkung durch eine Reihe von pharmakologischen Studien an
Versuchstieren belegt. Weissdom kann vor leichten Herzrhythmus- und
Durchblutungsstörungen schützen, Blutdruck und Herzfrequenz senken. Bei
Schmerzen in der Herzgegend, Atemnot und anhaltenden
Kreislaufbeschwerden wird vor der Selbstbehandlung gewarnt, und es
sollte immer eine Beratung durch den Arzt er folgen.
Letzte Änderung: 01.10.2020 / © W. Arnold