Cannabis sativum - Entschärftes Kifferkraut wird Medizin
CANNABIS - Ein europäisches Konsortium aus Vertretern von Hochschule und Industrie will THC-freie Cannabisextrakte zu standardisierten Präparaten verarbeiten, damit die dem Hanf zugeschriebene schmerzstillende und abschwellende Wirkung bei Rheuma und Migräne klinisch überprüft werden kann.
Hanf ist eine der ältesten und wertvollsten Kulturpflanzen und spielte schon immer auch eine Rolle als Heilmittel. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war Cannabis im deutschen, britischen und amerikanischen Arzneibuch vertreten, wurde beispielsweise gegen Kopfschmerzen verordnet. Derzeit ist das berühmt-berüchtigte Kifferkraut auf dem besten Wege zu einem Comeback als seriöses Heilmittel. Krebs- und Aids-Patienten erfahren dank seines psychotropen Hauptwirkstoffs THC (Tetrahydrocannabinol, auch Dronabinol) bereits Abhilfe bei Übel- und Appetitlosigkeit. Hierfür muss das in den USA seit 1985 zur Behandlung von Chemotherapie-induziertem Erbrechen zugelassene und seit 1992 auch Aids-Patienten verschriebene Dronabinol (Handelsname Marinol) allerdings extra aus den USA importiert werden. Deutsche Apotheker dürfen THC aber auch im Auftrag von Ärzten als Rezeptursubstanz erwerben und zum Arzneimittel weiterverarbeiten. In England wird derzeit ein Cannabismedikament zur schmerzstillenden Therapie bei Multipler Sklerose klinisch getestet. Und ein internationales Konsortium aus Ethnobiologen, Biopharmazeuten, Neurobiologen und anderen Fachleuten ist überzeugt, dass Cannabis ausser THC noch mehr zu bieten hat. «Es gibt reichlich ernstzunehmende Hinweise, dass Cannabis bei Migräne- und Rheumapatienten eine positive Wirkung zeigt. Und beide Krankheitsbilder verlangen dringendst nach neuen Wirkstoffen, nicht zuletzt, nachdem die neuen selektiven Cyclooxygenase(COX)-2-Inhibitoren wegen verschiedener Nebenwirkungen teilweise wieder vom Markt genommen werden mussten», erklärt Dr. Bernd Fiebich. Fiebich ist Biologe und als Leiter des Neurochemischen Labors der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg i.Br. einer der Initiatoren des Cannabis-Projektes. Die von ihm mit gegründete Firma VivaCell Biotechnology GmbH in Denzlingen bei Freiburg gehört ebenfalls zum Cannabis-Forschungsverband.
Gemeinsam haben die Freiburger ein Biotestsystem entwickelt, das auf Mikrogliazellen beruht, den Hauptbestandteilen des Immunsystems des Zentralnervensystems (ZNS). Mikrogliazellen werden bei allen Schädigungen oder pathologischen Veränderungen des ZNS aktiviert, darunter neuroentzündliche Prozesse, wie die zum Krankheitsbild der Multiplen Sklerose gehörenden, aber auch neurodegenerative Veränderungen, wie sie bei Alzheimer auftreten. «Wir haben eine langjährige Erfahrung im Umgang mit diesen nicht ganz einfach zu handhabenden Zellen», bestätigt Fiebich. Im Freiburger Labor werden die Mikrogliazellen aus Ratten- und Mäusehirnen isoliert. Durch Zugabe eines Lipopolysaccharids bakteriellen Ursprungs lässt sich an ihnen eine Entzündung simulieren. Das bakterielle Molekül bindet dabei an einen Rezeptor auf der Zelloberfläche, woraufhin eine ganze Reaktionskaskade losgetreten wird, messbar anhand der Ausschüttung diverser zellulärer Botenstoffe, darunter Zytokine, Prostaglandine usw.
Freiburger Migränemodell eruiert neue Wirkung für Koffein und Vitamin C
«Der Test stellt ein gutes Modell für das noch weitgehend unverstandene Krankheitsbild der Migräne dar», urteilt Fiebich, der mit der Untersuchung von Wirkstoffen gegen Kopfschmerz bereits Erfahrung hat: 2000 konnte sein Team im Auftrag von Boehringer Ingelheim zeigen, dass die Wirkung von Paracetamol durch Koffein verstärkt wird, weil beide Wirkstoffe die Synthese des Gewebshormons Prostaglandin (PGE2) hemmen, Paracetamol zudem die Aktivität des Schlüsselenzyms der Prostaglandin-Synthese, Cyclooxygenase, inhibiert, und Koffein darüber hinaus auch noch die Synthese dieses Enzyms bremst. Beide Wirkstoffe verstärkten zudem den Hemmeffekt von Acetylsalicylsäure auf die Produktion von PGE,. Vor zwei Jahren machten die Freiburger Forscher publik, dass Vitamin C (Ascorbinsäure) die Synthese von PGE7 hemmt und den entsprechenden Hemmeffekt von Acetylsalicylsäure verstärkt.
Bei VivaCell Biotechnology werden auch toxikologische Untersuchungen und Untersuchungen zu Wechselwirkungen der pflanzlichen Inhaltsstoffe mit anderen Wirkstoffen gemacht. «Anwender pflanzlicher Präparate haben einen Anspruch darauf, dass Phytopharmaka pharmakologisch genau so gründlich untersucht wurden, wie andere Arzneimittel auch», fordert Fiebich mit einem Hinweis auf den Skandal um hoch dosierte Johanniskrautextrakte, unter deren Einnahme es zu unvorhergesehenen pharmakokinetischen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten gekommen war. Fiebichs Kollege Michael Heinrich, ebenfalls in Freiburg ausgebildet und heute Professor an der University of London, leitet das EU-geförderte Cannabis-Projekt. Als Pharmakognostiker bringt er das Know-how der diversen Mitglieder des Konsortiums unter einen Hut, darunter das des «Nuclear-Factor-kappaB» -Fachmanns Lienhard Schmitz, Privatdozent an der Universität Bern. Der Ausschüttung von Chemo- und Zytokinen bei entzündlichen Prozessen liegt eine Aktivierung der entsprechenden Gene zugrunde, wobei dem induzierbaren Transkriptionsfaktor Nuclear Factor-kappaB (NF-KB) eine Hauptrolle zukommt. In Schmitz' Arbeitskreis wird unter anderem nach Wirksubstanzen gesucht, die in den NF-KB-Signalweg eingreifen. Das Berner Team steuert dem EU-Projekt entsprechende Bioassays bei. Und auch Eduardo Mufioz, Pharmakologe und Professor an der spanischen Universität Cordoba, ist ein erfahrener Naturwirkstoff-Sucher. Er ist zudem Mitgründer der 2002 ins Leben gerufenen VivaCell-Tochter Viva-Cell Biotechnology Espana S. L., die die im Zusammenhang mit dem EU-Cannabis-Projekt notwendigen Tiermodelle der rheumatischen Erkrankung übernimmt.
EU macht anderthalb Millionen locker
Derzeit arbeiten die EU-Forscher noch an der Auswahl des geeignetsten Extrakts aus THC-freien oder THC-armen und damit nicht psychotropen Cannabis sativa Sorten. Insgesamt sind sechs Hochschularbeitskreise und drei kleinere Industrieunternehmen an dem Projekt beteiligt. Die meisten von ihnen haben schon im Rahmen des EU-Vorgängerprojekts AINP (Anti-Inflammational Natural Products) zusammengearbeitet. Dabei wurden über tausend Extrakte verschiedener sardinischer, spanischer und kenianischer Heilpflanzen auf entzündungshemmende Inhaltstoffe untersucht, die nun zu Medikamenten weiterentwickelt werden sollen. Fiebich ist sicher, dass diese vorangegangene erfolgreiche Zusammenarbeit die Entscheidung der EU-Bürokraten, das Cannabis-Projekt mit 1,5 Mio. EUR zu fördern, positiv beeinflusst hat. Ebenso wie die Tatsache, dass es sich beim Krankheitsbild Migräne um eine typische Frauenkrankheit handelt, die in Europa durch Arbeitsfehlzeiten volkswirtschaftlich von Bedeutung ist. Den Erfolg der Freiburger Forscherclique beim Wettlauf um EU-Fördermittel schreibt der Biologe nicht zuletzt einer kompetenten Beratung durch das Steinbeis-Europa-Zentrum in Stuttgart zu. Als operative Einheit des Europabeauftragten des Wirtschaftsministers des Landes Baden-Württemberg erleichtert das Zentrum kleinen und mittleren Unternehmen seit 1990 den Weg nach Brüssel und berät sie in allen Fragen zu den europäischen Forschungs- und Technologieprogrammen. Daneben wird die Nutzung der Ergebnisse europäischer Forschung und Technologieentwicklung gefördert. Und die EU erwartet von dem Hanfprojekt übrigens nicht nur neue Medikamente gegen Migräne und Rheuma, sondern auch ein neues, finanziell interessantes landwirtschaftliches Produkt.
Letzte Änderung: 01.10.2020 / © W. Arnold